Médée

Tragédie mise en musique (1693)

Musik von

Marc-Antoine Charpentier

Text von

Thomas Corneille

Schon unter den Zeitgenossen gab es Stimmen höchsten Lobes: Unzweifelhaft sei Marc-Antoine Charpentiers »Médée« dasjenige Werk nach dem Tode Lullys – dem Begründer der französischen Oper zur Zeit des Sonnenkönigs –, in dem ein besonderes Können zutage tritt.

Viel könne man angesichts dieser »Médée« über die Kunst der Komposition lernen, über das organische Zusammenwirken von Text und Musik, über die Vergegenwärtigung eines vielschichtigen tragischen Geschehens, dessen Größe und Kraft unmittelbar zu berühren weiß. Charpentiers Oper ist in ihrer Verbindung von französischer Klassizität mit italienischer Melodienschönheit einzigartig, singulär auch in ihrem Ausdrucks- und Klangfarbenreichtum. Eine jede Figur gewinnt scharfes Profil, so wie auch das Drama selbst, das von Peter Sellars in Szene gesetzt wird, mit Brückenschlägen aus mythischer Zeit in die Gegenwart hinein, einmal mehr unterstreichend, wie aktuell und wirkungsmächtig die altgriechische Sagenwelt doch für uns ist.

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Handlung

PROLOG

Die Oper beginnt mit einem Lobgesang auf den König, der viele Kriege angezettelt hat, weil er versucht, der Welt Frieden zu bringen. Die Menschen beten, dass eine riesige Wolke herabsteigt und ihr Schicksal offenbart. Der Sieg (Victoire) in Gestalt der Königstochter Créuse entsteigt der Wolke, um dem Helden Jason, der das Goldene Vlies triumphierend in ihr Land gebracht hat, ihre Liebe anzubieten. Auf einen kurzen Tanz von Melancholie und Staatstrauer folgt eine freudige Explosion sexueller Befreiung. Jason singt ein unwiderstehliches kleines Lied, in dem er zugibt, dass ein Mann in seinen besten Jahren die Freiheit haben sollte, seine Partnerin zu wechseln.

ERSTER AKT

Medea und ihre Kinder werden in einem Internierungslager festgehalten, wo sie auf einen drohenden Abschiebungsbefehl warten. In der Zwischenzeit hat ihr Ehemann Jason ein Liebesbündnis mit der Königstochter Créuse geschlossen, die auch anbietet, sich um die Kinder zu kümmern. Medea ist verletzt und gedemütigt, getrennt von ihren Kindern und öffentlich getrennt von Jason, dem einzigen Mann, den sie je geliebt hat. Ihre Vertraute Nérine rät Medea zu schweigen. Frauen haben schon immer schweigen müssen. Die beste Rache ist das Schweigen. Créuse fühlt sich von Medeas ungewöhnlichem, leuchtend gelbem Kleid angezogen. Medea hat es von ihrem Vater, der Sonne, als Geschenk erhalten. Nun muss Jason Medea fragen, ob sie ihr Kleid seiner neuen Freundin schenken würde. Es ist ein peinlicher Moment. Medea sagt: »Sicher«.

Jason muss seinen Kindern erklären, dass das Problem darin besteht, dass ihn zu viele Menschen lieben. Sein Adjutant Arcas flüstert Jason zu, vorsichtig zu sein. Medea ist zu schrecklicher Vergeltung fähig. Aber Jason hat es satt, ein Held zu sein. »Was hat der Ruhm für mich getan?«, fragt er sich. Die Öffentlichkeit ist besorgt über den bevorstehenden Krieg. Die Anwesenheit Jasons auf ihrer Seite mildert ihre Besorgnis. Der König braucht den charismatischen, gutaussehenden Jason dringend, damit er bleibt und dem Land hilft, den Krieg zu gewinnen. Jason wird bleiben, wenn er Créuse haben kann. Doch nun hat auch einer der Koalitionspartner des Königs, der berühmte Held Oronte, ein Auge auf Créuse geworfen. Für die Kriegsanstrengungen ist er ebenfalls unerlässlich. Insgeheim rät der König Jason, sich weiter mit Créuse einzulassen. Aber er braucht auch Jason und Oronte als Freunde und Mitstreiter. Wie üblich, wenn so viele Lügen in der Luft liegen, müssen diese Männer, die bereits wissen, dass alle ihre Lügen zum Scheitern verurteilt sind, auf eine Strategie der Ablenkung und die Möglichkeit, Profit zu machen, zurückgreifen, indem sie den nächsten Krieg heraufbeschwören. Auf seinem Raketenwerfer reitend, singt Oronte »Die mächtigste Kraft der Welt ist die Liebe.«

ZWEITER AKT

Der König verlangt von Medea, das Land sofort zu verlassen. Obwohl sie, wie die meisten Immigranten, nicht gegen das Gesetz verstoßen hat, erfüllt ihre bloße Anwesenheit die Bevölkerung mit Angst und Schrecken. Doch Medea will nur mit Jason gehen. Der König und Medea sind überrascht; sie singen ein ergreifendes Duett, während sie sich vorstellen, wie sie von Jason verlassen wurden. Medeas Verbrechen bestand darin, dass sie ihre magischen Kräfte einsetzte, um Menschen zu vernichten, darunter auch ihren eigenen Bruder, um Jason zu helfen, das Goldene Vlies zu stehlen. Sie beging diese Verbrechen aus Liebe zu Jason. Der König bringt Medea schnell zum Schweigen und verkündet öffentlich, dass sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden deportiert werden soll. Als sie in ihre Isolierzelle zurückgeschleppt wird, bittet Medea Créuse, sich um ihre Kinder zu kümmern.

Créuse dankt ihrem Vater, dass er sie mit Jason, dem Liebhaber ihrer Träume, verkuppelt hat. Als Jason dann aber kommt, ist sie nervös. Er hat einen schrecklichen Ruf, und alles ist wahr. Sie muss ihn testen, bevor sie Ja sagen kann. In zwei Liebesduetten zögern sie, wehren sie sich, berühren sich und halten sich dann gegenseitig. Es ist ein zutiefst wunderbares Gefühl, geliebt zu werden. Oronte kommt genau zum falschen Zeitpunkt und ist sofort eifersüchtig und verletzt. Er offenbart seine Liebe zu Créuse. Sie antwortet ihm mit wunderbarer Zärtlichkeit und Großzügigkeit, indem sie Oronte bildschön und mit tiefer Fürsorge sagt, dass sie ihn nicht liebt. Der Chor ist erstaunt über ihre Güte und spricht Oronte, dem unglücklich Verliebten, sein Beileid und Jason seine Glückwünsche aus. Die Liebe selbst (L’Amour) erscheint von oben und lässt Créuse und Jason wissen, dass sie ihre Liebe nicht zu verbergen brauchen. Oronte sieht eine Vision des Universums, das mit Liebenden in Ketten gefüllt ist. Das Trio L’Amour, Créuse und Jason singt mit zarter Melancholie »Liebende, tragt eure Ketten mit Freude.«

DRITTER AKT

Oronte solidarisiert sich nun mit Medea: Beide wollen, dass Jason das Land verlässt. Aber Medea zwingt auch Oronte, sich der Realität zu stellen. Créuse liebt ihn nicht, und was für Medea noch schlimmer ist: Es sieht so aus, als ob Créuses Liebe zu Jason echt ist. »Wer hätte geglaubt«, singen sie gemeinsam, »dass das reine Feuer meiner Liebe mit verbrecherischer Undankbarkeit vergolten werden würde.« Dann sieht Medea Jason. Sie muss mit ihm allein sein. Jason hat den König davon überzeugt, Medea noch in dieser Stunde zu deportieren; er kommt in ihre Zelle zum letzten »Entlassungsgespräch«; sein Entschluss steht fest, sein Herz ist taub für ihr Flehen. Als sie singt, wie sehr sie die Lügen, die er ihr erzählt hat, glauben will, bricht es ihm das Herz. Er verlässt sie.

Allein in ihrer Zelle fragt sich Medea, was ihre Liebe eigentlich kostet. Die Rechnung ist niederschmetternd und klar. Als ihr Schmerz immer größer wird, beschwört sie schließlich ihre magischen Kräfte, sprengt ihre Zelle und verbrennt das Gefängnis. Sie ruft die schwarzen weiblichen Gottheiten aus allen Welten an, um alle Gefangenen zu allen Zeiten zu befreien. Die Geister sehen Medeas großes Leid. Sie wollen ihr helfen. Dämonen kennen das Leiden. Sie bittet diese, ihr Gift zu bringen und das leuchtende Kleid aus Sonnenlicht, das ihr Vater ihr geschenkt hat und das sie nun Créuse schenken wird. Die Geister der Nacht tränken das Kleid des Lichts sorgfältig mit dem Gift des Schmerzes und der Trauer. Die Pforten der Hölle poltern und zittern. Es gibt ein Erdbeben, gefolgt von einem Tanz der Geister, die aus ihren Käfigen befreit werden.

PAUSE

VIERTER AKT

Créuse kann keinen Tag länger warten, bis Medea endlich das Land verlässt, um ihr neues gelbes Kleid anzuprobieren. Tatsächlich hat das Anziehen von Medeas verzaubertem Kleid begonnen, sie zu verändern. Ihre Vertraute Cléone kann spüren, dass ihre Herrin neue Kräfte gewonnen hat. Jason ist erschrocken und fühlt sich plötzlich angezogen, als er eine neue Frau in Medeas unvergesslichem ikonischem Kleid sieht. Je mehr er hinschaut, desto mehr beginnt er beide Frauen zu sehen. Créuse hat einen neuen, gebieterischen Sinn zu kommandieren. Sie sagt Jason, dass er lernen muss, für die Liebe zu leiden. Verliebt zu sein ist gewalttätig, bedeutet, dass man bereit ist, verletzt zu werden. Und sie verlangt den Beweis, dass ihre Bindung an Jason ewig hält. Sie legen einen Schwur ab: »Die zornige Liebe soll uns grausam und gerecht bestrafen, wenn wir jemals aufhören, uns umeinander zu kümmern.« Créuse sieht Oronte kommen und läuft fort. »Warum verschwindet Créuse jedes Mal, wenn sie mich sieht?«, fragt Oronte Jason. »Ich spüre ihre extreme Kälte. Ich sehe die Ablehnung in ihrem Herzen. Könnte es daran liegen, dass meine beste Freundin mich ganz offen betrügt?« Jason beschließt, dass es sicherer wäre, wenn er jetzt an die Kriegsfront zurückkehren würde.

Oronte ist seelisch zerrüttet und geistig verloren. Medea erklärt ihm, dass der Himmel nicht auf ihrer Seite ist und sie sich nur noch auf die Rache konzentrieren können. Oronte fragt sie: »Wird die Rache diejenigen, die wir lieben, zu uns zurückbringen?« Medea antwortet nicht auf diese Frage. »Woher kommt dieses furchtbare Gefühl?«, fragt sie sich, »Warum zittere ich? Wie kann ich mich daran erinnern, dass ich eine Mutter und eine Frau bin?« Sie sieht ihre Kinder mit verlorenen Augen an. »Nein, ich muss unnachgiebig sein. Ich muss Jason verletzen. Ich werde ihn so verletzen, dass er sich nie mehr davon erholen wird.« Der König erscheint, auf der Flucht vor öffentlichen Demonstrationen auf den Straßen, die gegen Medeas weitere Anwesenheit protestieren. Medea teilt dem König mit, dass sie gerne den Ort verlassen wird, sobald Jason bereit ist, sie zu begleiten, und sobald sie die Verlobung von Créuse mit Oronte miterleben kann. Der König teilt Medea mit, dass dies seine Entscheidungen seien. Sie entgegnet ihm, dass seine Zeit der Entscheidungen vorbei sei und sie von nun an die Kontrolle habe. Er befiehlt seinen Wachen, sie zu ergreifen. Mit einem Zauberspruch bringt Medea die Wachen dazu, sich zunächst gegenseitig anzugreifen, sich dann umzudrehen und den König zu verhaften. Für einen Moment verliert Medea wieder die Orientierung und spürt ihre Erschöpfung und Zerbrechlichkeit. Wie die müde Mutter, die sie ist, muss sie sich hinlegen und ausruhen. Heilende Geister erscheinen und beginnen eine Behandlung, um ihre wilde Wut zu heilen. »Herzen, die durch den Wahn des Zorns verstört sind, lasst los, lasst los. Bitte hört auf, uns zu bekämpfen. Jeder spürt unsere Macht. Selbst ein Herz aus Eis muss sich bewegen lassen.« Als die Phantome verschwinden, schreit der König Medea an. Plötzlich wird es dunkel. Der König beginnt, mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Seine Lügen kommen zurück, um ihn zu verfolgen und schließlich zu zerstören. Er kämpft um sein Leben, greift wahllos Fremde an und ermordet Oronte auf grausame Weise. Nur der Anblick seiner Tochter Créuse vermag ihn zu beruhigen. Er wird nie wieder sprechen.

FÜNFTER AKT

Medea spricht mit ihren Kindern. Sie fragt sie, ob sie Verbrecher sind wie ihr Vater und ob sie es verdienen, zu leben. Sie sieht den Blick in ihren Augen und fragt sich, ob die Genugtuung, Jason leiden zu sehen, den Preis ihres Lebens wert ist. Die Kinder laufen von ihr fort. Créuse bringt ihren Vater zu Medea. Er hat seine geistigen Fähigkeiten verloren und wird von plötzlichen Gewaltausbrüchen heimgesucht. Créuse fleht Medea an, den Fluch von ihm zu nehmen, Gnade walten zu lassen und ihn zu heilen. »Eine weinende Prinzessin fleht dich an, ihr einen Vater zurückzugeben.« Medea sagt, dass die Bestrafungen noch nicht begonnen haben. »Dann nimm Jason zurück«, ruft Créuse ihr zu, »Gib mir nur meinen Vater wieder.« Medea weiß nicht, ob dieser unerwartete Moment des Triumphs ausreicht, um ihr rasendes, eifersüchtiges Herz zu befriedigen.

Der Chor beginnt mit einem großen Klagelied. Was ist aus unserem Land geworden? Woher kommt dieser ganze Hass? Unsere Führer begehen Selbstmord. Warum begraben wir unsere Kinder, obwohl sie eigentlich unsere Unterstützung brauchen? Wir haben falsche Götter angebetet. Wir müssen aufhören, falsche Götter zu verehren. Wir müssen uns weigern, sie zu verehren. Wir leben in einer Welt, die unmenschlich und ungerecht ist.

Créuse hat ihren Vater verloren, und Medea ihre Kinder, alles wegen eines Mannes, der sie beide belogen hat. Créuse fragt, ob Medea jemals in der Lage sein wird, das Gewicht des Schmerzes und des Hasses zu fühlen, dass sie jetzt überwältigt. Medea, die immer noch unter Schock steht, antwortet: »Der Anblick von etwas Blut stört dich also? Alle Pläne Medeas haben zu einer Katastrophe, zu Gewissensbissen und zu einer Art von Leiden geführt, das sich grausam und leer anfühlt. Aber es ist zu spät, um aufzuhören. Sieh dir an, was für ein Mensch ich geworden bin.« Créuse spürt die ersten Flammen in ihrem Kleid aufsteigen. Sie weiß, dass sie vor Liebe und vor Schmerz brennt, und jetzt wird ihr klar, dass sie auch buchstäblich, körperlich brennt. Sie verbrennt lebendig in dem Kleid, das ein Geschenk der Sonne war. Jason kommt gerade noch rechtzeitig, um Zeuge ihres langsamen Todeskampfes und ihres anhaltenden Todes zu werden. Sie singen ein zerbrechliches Duett, während Ketten aus Feuer sie verbinden und für immer trennen. Während Jason den Tod seiner neuen Liebe betrauert, sieht er die Leichen seiner toten Kinder. Medea erscheint, um sich zu verabschieden. »Dies ist die Welt, die du geschaffen hast, Jason. Jetzt musst du in ihr leben.« Sie wird in den Himmel gehoben, während die Welt zusammenbricht.

von Peter Sellars

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